Südostbrasiliens Rio Doce stirbt den Schlammtod

Imagem do distrito de Bento Rodrigues após desastre Foto: JuniorGV2015/Wikimedia (CC BY-SA 4.0)

Eine Million Menschen ohne Trinkwasser

Ein von Schlammmassen weggerissenes Dorf mit rund 600 Einwohnern; Zehn Tote und 18 Vermisste mit kaum Überlebenschancen; Tausende von Hektar fruchtbaren Bodens unter giftigem Schlamm begraben; etwa eine Million Menschen ohne Trinkwasser und Südostbrasiliens größter Fluss, der Rio Doce auf 666 Flusskilometern vernichtet: Das ist die Vorläufige Bilanz der Tragödie von Mariana in Minas Gerais, ausgelöst durch den Bruch zweier Staudämme angefüllt mit Abraum und Abwasser der Eisenerzmine Samarco der beiden Minenbetreiber Vale und BHP Billiton. Eine angekündigte Katastrophe, die so oder so ähnlich seit Jahren in fast regelmäßigen Abständen in Brasilien geschieht, einem Land, dessen Wirtschaftswachstum der vergangenen 15 Jahre in erster Linie auf rücksichtsloser Ausbeutung seiner natürlichen Rohstoffe basiert.

 

Allein im Südosten Brasiliens kam es seit 2000 zu wenigstens sechs Brüchen von Abraum- und Industrieabwasser-Talsperren. Am 22. Juni 2001 platzte der Damm der Eisenerzmine Rio Verde im Bezirk Nova Lima bei Belo Horizonte. Fünf Menschen starben.

 

Zwei Jahre später, am 29. März 2003 brachen zwei Dämme angefüllt mit giftigen Abwässern der Papierproduktion von Florestal Cataguases in Minas Gerais. 1,2 Milliarden Liter Schwermetall- und chlorhaltige organische Abwässer strömten in Rio de Janeiros wichtigste Trinkwasserquelle, den Fluss Paraíba do Sul. Der Fluss wurde schwärzer als Coca-Cola, so die Anwohner. Die Wasserversorgung von mehr als einer halben Million Menschen in Minas Gerais und Rio de Janeiro war für 20 Tage lahmgelegt.

 

März 2006 brach ein Teil einer Talsperre bei Miraí mit Abraumschlamm aus dem Bauxitabbau des Minenbetreibers Rio Pomba Cataguases. Knapp ein Jahr später, Januar 2017, platzte der Damm völlig. Zwei Milliarden Liter Schlamm strömten in die Flüsse Fubá und Muriaé und verschlammten die Städte Miraí e Muriaé.

 

Als 2009 die beiden wieder bis zum Rand gefüllten Dämme der Papierproduktion von Florestal Cataguases abermals zu brechen drohten, griffen die Behörden zu einer drastischen Notmassnahme. Sie erlaubten dem Unternehmen die giftigen Abwässer der Stauseen kontrolliert in "kleinen" Dosen in den Rio Paraíba do Sul abzulassen. Von 2009 bis 2012 flossen so 1,4 Milliarden Liter Zellstoff-Abwässer "kontrolliert" in Rio de Janeiros wichtigste Trinkwasserquelle.

 

September vergangenen Jahres dann brach der B1-Damm des Minenunternehmens Herculano Mineração in Itabirito in Minas Gerais. Drei Minenarbeiter starben, und Abraumschlamm verseuchte den Rio Itabirito und zwei kleinere Flüsse.

 

Jetzt am 5. November 2015 geschah die bislang größte Bergbaukatastrophe in Brasilien. Zwei von insgesamt drei Dämmen voll mit Abraum der Mine Samarco bei Mariana brachen und lösten einen gewaltigen Schlamm-Tsunami aus. Unaufhaltsam wälzen sich seitdem die Schlammmassen entlang des Rio Doce über Hunderte von Kilometern durch Minas Gerais und Espirito Santo Richtung Meer und ersticken alles Leben.

 

Rio Doce e Governador Valadares Foto: Alex's Paragliding/Wikimedia (CC BY 3.0)

Erdbeben oder Überproduktion?

 

Ersten Mitteilungen des Minenbetreibers zufolge werde ein leichtes Erdbeben der Stärke 3 auf der Richterskala als Ursache für den Dammbruch vermutet. Doch von Vale und BHP Billiton unabhängige Geologen und Bergbauexperten schließen dies als Ursache des Unglücks aus. Jegliche Talsperre sollte diesen in der Region nicht ungewöhnlichen, schwachen Erdbeben standhalten können.Wahrscheinlicher als eine "natürliche" Ursache seien Sicherheitsmängel, die von den Behörden bereits 2013 bemängelt wurden, plus eine jüngste Erhöhung der Belastung der Talsperren von Mariana: Denn trotz Verfalls des Weltmarktpreise von Eisenerz aufgrund globaler Überproduktion hatten Vale und BHP Billiton die Produktion ihrer Samarco-Mine im vergangenen Jahr um fast 40 Prozent auf 30,5 Millionen Tonnen erhöht mit entsprechender Zunahme des Minenabraums.

 

Ökonomisten werteten diese Ausweitung der Überproduktion als Teil eines seit 2011 forcierten Preiskampfs der beiden zusammen mit Rio Tinto größten Minenunternehmen weltweit, bei dem es einzig darum gehe, Konkurrenten vom Markt zu drängen. Die Sicherheit der Talsperren, die im selben Maßstab nun seit 2014 noch mehr Abraum schlucken mussten, wurde dabei aber offensichtlich vernachlässigt.

 

Die Folgen tragen nun vor allem der insgesamt 853 Kilometer lange Rio Doce, der größte, noch einigermaßen intakte Strom Südostbrasiliens und Hunderttausende an und von ihm lebenden Menschen. Bereits etwa eine Million von ihnen stehen ohne Trinkwasser da, weil ihr Fluss zu einer stinkenden, giftigen Schlammrinne wurde.

 

Giftig oder nicht giftig?

 

Der "Unfall" von Mariana bedeute den Mord des Rio Doce, Brasiliens fünftgrößtes hydrographisches Becken, beklagt der Biologe André Ruschi von der Meeresbiologischen Station "Estação Biologia Marinha Ruschi" in Espirito Santo. Die Schlammflut vernichte praktisch alles Leben des Flusses. Andre Ruschi: "Ab heute kann man die endemischen Tierarten des Rio Doce als ausgestorben betrachten." Doch nicht nur dies: Der Biologe fürchtet auch gravierende Schäden an den artenreichen Küstenökosystemen im Einflussbereich des Mündungsgebiets. Mit dem Rio Doce würde der schwermetallhaltige Minenschlamm in die Küstennahen Aufzuchtsgebiete von Walen, Rochen und Meeresschildkröten transportiert. Drei Meeresschutzgebiete, Combois, Costa das Algas und Santa Cruz sind bedroht.

 

Seit Paracelsus wissen wir: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts." Nichtsdestoweniger werden die Minenbetreiber nicht müde zu behaupten, dass der Schlamm tatsächlich nicht giftig sei und keine Gesundheitsgefahr für Mensch und Umwelt darstelle. Eine unabhängige Analyse von Proben aus Teilen des bereits verschlammten Rio Doce durch das städtische Abwasser- und Wasserversorgungsunternehmens (Serviço Autônomo de Água e Esgoto - SAAE) von Baixo Guandu indes bestätigt die Giftfracht: Vor allem Arsen, Aluminium, Blei, Kupfer, Quecksilber. Die Konzentration von Arsen liege 260 mal über dem akzeptablen Grenzwert, so Neto Barros, der Bürgermeister der von der Schlammkatastrophe betroffenen und ohne Trinkwasser dastehenden Stadt Baixo Guando. Und Luciano Magalhães, SAAE-Direktor, resümiert. Die Situation des Rio Doce könne man mit zwei Worten beschreiben: "Toter Fluss". Das vergiftete Wasser sei zu nichts mehr zu gebrauchen. Weder zur Bewässerung und noch weniger für den menschlichen Konsum.

 

Dies hat gleichfalls eine Untersuchung des verschlammten Rio Doce durch das Wasserversorgungsunternehmen SAAE der Stadt Valadares ergeben. Demzufolge lag der Gehalt an Eisen 1.366.666 Prozent ueber dem fuer Trinkwasser tolerierbaren Grenzwert. Auch die Werte fuer Mangan und Aluminium lagen hunderttausendfach ueber den vertraeglichen Limits.

 

Während der Schlamm der beiden geborstenen Talsperren Fundão und Santarém von Mariana nun auch die letzten Kilometer des Rio Doce hinter sich lässt, droht ein weiteres Damoklesschwert in den Bergen von Minas Gerais. Auch Germano, der dritte und größte Damm mit Abraum der Eisenerzmine Samarco von Vale und BHP Billiton weist gefährliche Risse auf.

 

Trinkwasser oder Bergbau?

 

Germano und beiden geborstenen Talsperren Fundão und Santarém bei Mariana sind lediglich drei von insgesamt 450 Dämmen mit Abwässern aus Bergbau und Industrie in Minas Gerais, so die Liste der Landesstiftung für Umwelt des Bundesstaates (Feam). Etwa ein Dutzend dieser Giftstauseen bedrohen den Rio Paraíba do Sul, aus dem die Metropole und kommende Olympiastadt Rio de Janeiro mit mehr als zehn Millionen Menschen den Großteil seines Trinkwassers bezieht.

 

Es wird höchste Zeit für Brasiliens Regierung und Umweltbehörden aus den Fehlern zu lernen. Für den Rio Doce, den Süßen Fluss, ist es allerdings bereits zu spät.

Autor: Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

 

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