Krise am Zuckerhut

Sojaernte, Cubatao, Brasilien Foto: Márcio Garoni/flickr (CC BY_NC 3.0 BR)

Jahresrückblick: Brasilien 2015. Sinkende Weltmarktpreise machen Rohstoffexporte zunichte. Löhne werden von Inflation aufgefressen. Im Oktober 2015 frohlockte das Agrobusiness in Brasilien. Der Preis der Sojabohnen je 60-Kilogramm-Sack zog um mehr als zehn Prozent an, während internationale Ratingagenturen die Landeswährung Real auf Ramschniveau abwerteten. Der Wechselkurs brach um rund 100 Prozent von zwei auf vier Reals pro Dollar ein. Kein Problem für Großgrundbesitzer und Multis, die Soja und Fleisch auf dem Weltmarkt gegen »harte« Dollars eintauschen und die Löhne in Brasilien mit dem abgewerteten Real bezahlen.

 

Laut Angaben des Landwirtschaftministeriums wird das Land in diesem Jahr eine Sojarekordernte von 102,5 Millionen Tonnen einfahren, wovon mehr als die Hälfte in den Export geht. Die Anbaufläche, die inzwischen auf 33 Millionen Hektar angewachsen ist, werde deshalb auch im kommenden Jahr weiter steigen. Dass dies weiter auf Kosten von Brasiliens Wäldern, Savannen und Amazonaswald gehen wird, ist für Landwirtschaftsministerin Kátia Abreu kein Hindernis. In ihrer Jahresbilanz Mitte Dezember und kurz nach der Verabschiedung des Klimaprotokolls in Paris sagte sie: Wir holzten nicht ab, um die Flächen dem Wind und sich selbst zu überlassen. Die Abholzung geschah, um eine der Welt besten und produktivsten Landwirtschaften zu erschaffen. Natürlich wäre es gut, wenn Brasiliens Agrarbranche produzieren könnte, ohne einen Baum zu fällen, so die Ministerin. Doch dies sei lediglich ein Traum, eine Utopie und nicht die Wahrheit.

 

Des einen Freud ist des anderen Leid. Während die Exportlandwirtschaft in Brasilien Rekordgewinne einfährt und immer mehr Land an sich reißt, sind die Haushaltskassen der Regierung leergeplündert. Das größte lateinamerikanische Land steckt in seiner schlimmsten Wirtschaftskrise seit 25 Jahren. Binnen der letzten Dekade bedrohen die hohen Preise, ohne realen Inflationsausgleich für die Beschäftigten, selbst die Einkommen der Mittelklasse.

 

Krenkraftwerk Angra Foto: Sturm/Wiki (CC BY 30)

Deshalb waren bereits im August, als Bundeskanzlerin Angela Merkel Brasilien besuchte, vor allem aus der Mittelkasse Hunderttausende gegen die Politik der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff und die regierende Arbeiterpartei PT auf die Straße gegangen. Die Politik habe während des Aufschwungs versäumt, in Infrastruktur, Ausbildung und ins Gesundheitswesen zu investieren, analysierte Wolfram Anders, Präsident der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer im Deutschlandfunk. Tatsächlich aber investierte die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt massiv in Infrastrukturgroßprojekte wie Überlandstraßen quer durch Amazonien, Exporthäfen, Megastaudämme wie Belo Monte, neue Industriegebiete, Flughäfen und Sportarenen im ganzen Land. Nicht zuletzt flossen und fließen weiter Steuermilliarden in die pharaonenhafte Teilumleitung des Rio São Francisco sowie in den Bau des dritten Atomkraftwerks Angra III und des ersten brasilianischen Atom-U-Boots.

 

Der unter Dilmas Vorgänger, ­Lula da Silva, erlebte Wirtschaftsaufschwung bis 2011 war zudem lediglich durch die Förderung von Rohstoffexporten – vor allem Eisenerz, Rohstahl und Erdöl – erkauft und einer hohen Weltmarktnachfrage zu verdanken. Doch die Rohstoffpreise sind längst wieder im Keller. Auch das Barrel Erdöl wurde so billig, dass selbst Brasiliens einstiger Vorzeigekonzern Petrobras nichts mehr abwirft. Was dem Land bleibt, sind aufgedeckte Korruptionsskandale, Schulden und wieder steigende Abholzungen in Amazonien.

 

Rio Doce Foto: Alexs Paragliding/Wiki (CC BY 3.0)

Hinzu kommt noch Brasiliens größte Umweltkatastrophe. Sie ereignete sich am 5. November, als ein Rückhaltedamm randvoll mit Minenabraum der Eisnerzmine Samarco in den Bergen von Minas Gerais brach. Eine rotbraune Schlammlawine wälzten sich über Hunderte von Kilometern und erstickten alles Leben im Tal des rund 850 Kilometer langen Rio Doce. »Der Rio Doce ist nur noch eine Fotografie an der Wand«, so Márcia Brandão Carneiro Leão, Juristin für internationales Umweltrecht aus São Paulo, über einen der wichtigsten Flüsse Südostbrasiliens, der einst auch den Namen »Nilo Brasiliens« trug, wegen seines großen Deltas und weil seine Ufer so fruchtbar seien wie die des Nils von Ägypten. Ende November forderte die Regierung umgerechnet rund fünf Milliarden Euro von den Minenbetreibern Vale und BHP Billiton zur Säuberung des verseuchten Rio Doce.

 

Die Wirtschaftskrise 2015 trifft im besonderen Maße auch Rio de Janeiro, die Millionenmetropole, die im kommenden Jahr die Olympischen Spiele ausrichten will. Man sieht unfertige Baustellen an allen Ecken, doch die Stadt am Zuckerhut ist so pleite wie das Land. Die Regierung kann nicht einmal mehr die Gehälter der Lehrer der öffentlichen Schulen bezahlen und stundet seit November deren Auszahlung. Ähnlich geht es den Universitäten und Krankenhäusern am Zuckerhut, während die Gewalt in der schönsten Stadt der Welt weiterhin Bürgerkriegsniveau hat. Wichtige zur Olympiade 2016 versprochene Projekte wie die Entgiftung der Guanabara-Bucht von Rio de Janeiro sind auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Dabei steht die Wasserversorgung der Millionenmetropole kurz vor dem Kollaps. Aufgrund einer ungewöhnlichen Dürre Anfang des Jahres schrumpften Rios Trinkwasserseen zu Tümpeln. Wenn sich dies im kommenden Jahr wiederholen sollte, dann liegen die Olympische Spiele 2016 sprichwörtlich auf dem Trockenen.

Erstveröffentlichung: Junge Welt

 

Autor: Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

 

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