Italien: Demokratie - Hindernis für Entwicklung?

Heute, am 4.12.16, können rund 51 Millionen Menschen in Italien in einer Volksabstimmung über grundlegende Änderungen der Verfassung abstimmen. Da Ministerpräsident Matteo Renzi seine politische Zukunft mit dem Referendum verknüpft hat,

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stimmt die Bevölkerung gleichzeitig über seine Politik ab. Das wiederum weckt Befürchtungen nicht nur in Europa sondern auch weltweit. Scheitert das Referendum, scheitert auch Renzi und tritt wahrscheinlich zurück. Dies könnte ein panische Reaktion der Finanzmärkte hervorrufen und eine erneute Phase politischer Instabilität in der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone.

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Der folgende Text von Gerardo Femina beinhaltet lesenswerte Gedanken über dieses Referendum, die italienische Politik und Gesellschaft:

Wenn man glaubt, dass die Staaten inzwischen Firmen sind, bei denen die Regierungen als eine Art Verwaltungsrat fungieren, dessen Rolle die Erleichterung von Investments ist, dann wäre die kohärente Wahl zum konstitutionellen Referendum in Italien ohne Zweifel ein JA. Aus dieser Sichtweise ist ein Staat so etwas wie eine Filiale einer großen Weltbank und seine Aufgabe ist die Erleichterung von Finanztransaktionen, wirtschaftlichen Investments sowie die Verminderung von Hindernissen auf dem Weg dazu auf ein Minimum. So gesehen können Hindernisse „primitive“ Ideen sein, wie zum Beispiel die Rechte der arbeitenden Bevölkerung oder das Recht auf Bildung oder auf staatliche Gesundheitsversorgung. Von diesem Standpunkt aus ist die Demokratie eine veraltete Idee, obsolet und gültig für eine inzwischen vergangene Welt. Zudem verursacht die Demokratie Kosten: Wahlen, Parlamentarier, die Repräsentanten auf verschiedenen Ebenen und die ganze bürokratische Maschinerie benötigen viel Geld. Und diese Kosten sind nicht gerechtfertigt, denn die Maschine ist nicht effizient. Die Politiker und die Parteien können sich nicht einigen, wichtige Entscheidungen werden nicht getroffen oder nur nach langer Zeit. Kurz gesagt die Demokratie verhindert Entwicklung. Es braucht ein effizienteres System, schlank und kostengünstig, um die Angelegenheit zu lenken. Man muss die Idee akzeptieren, dass nicht alle Menschen gleich sind und dass einige das Recht haben, für andere zu entscheiden.

 

Wenn man aber im Gegenteil glaubt, dass die moderne Idee der repräsentativen Demokratie, mit all den Limitierungen, die sie hat, eine große Errungenschaft der Menschheit ist und deshalb vereidigt werden muss, um sie zu verbessern, dann wäre die kohärente Wahl das NEIN. Aus dieser Sichtweise heraus ist das Belassen der Kontrolle über den Staat in den Händen der wirtschaftlichen Mächte eine primitive und aristokratische Ideologie. Eine primitive Ideologie, die zu der heutigen Situation geführt hat, in der 85 Personen über 40% der Reichtümer der Weltbevölkerung verfügen und in der einige wenige multinationale Firmen mächtiger sind als ganze Nationalstaaten. Eine primitive Ideologie, die die Privatisierung des Staates will, die Übernahme von öffentlichen Güter und Interessen durch die wirtschaftliche Logik der Entwicklung und die Unterwerfung von Menschenrechten den Gesetzen des Marktes. Im Gegenteil glaubt man daran, dass alle Menschen gleich sind und dass alle die gleichen Rechte haben. Im Gegenteil glaubt man, dass die wahre Macht die Menschen sind und es auch sein müssen. Man glaubt, dass die wahre Entwicklung die der Befreiung von der Knechtschaft der verschiedenen Wall Streets, der Nasdaq-Titel, der Spreads und der Wachstumsquote ist. Im Gegenteil glaubt man, dass wahres Wachstum in der Umverteilung der Reichtümer besteht und nicht in in einer Politik, die diese immer mehr in den Händen weniger konzentriert. Im Gegenteil glaubt man, dass das menschliche Leben viel größer und würdiger ist, als dieses primitive und nunmehr obsolete Model, das sie uns aufzwingen wollen.

 

Es ist interessant, zu beobachten, wie Italien immer Avantgarde ist. Das Modell Berlusconi – ein Milliardär, der auch die politische Macht innehat – wurde auch in andere Länder exportiert, zuletzt in die Vereinigten Staaten. Italien war auch Avantgarde mit der Regierung Monti, ein Vertreter der Banken, der an die Spitze einer Regierung gesetzt wurde, ohne irgendeine demokratische Wahl. Wird Italien jetzt auch ein Vorbild für die „Verschlankung“ der Demokratie? Deshalb erfahren die politischen Angelegenheiten in Italien in diesen Tagen viel Aufmerksamkeit in Europa und weltweit. Ein Experiment, das, wenn es gelingt, auch exportiert werden kann. Der Ausgang wird bedeuten, dass die Menschen ihn „demokratisch“ akzeptiert haben.

 

Wenn man nicht will, dass dieses Referendum nur eine Waffe zur „Ablenkung“ der Massen ist, wie es die Wahlen in den USA waren, dann muss man den tieferen Sinn dahinter erkennen. Italien ist eine große Nation mit einer bedeutenden demokratischen Geschichte, die sich nicht dafür entscheiden wird, zu einer Laborratte für die Experimente des großen Finanzkapitals degradiert zu werden.

 

Es ist klar, dass ein Wandel nicht nur nötig, sondern von absoluter Dringlichkeit ist, und dass es nicht ausreicht, nur „Nein“ zu sagen. Es braucht engagierte Arbeit, um nicht nur zu irgendwelchen Reformen zu gelangen, sondern zu einer gewaltfreien Revolution, die in den grundlegenden Dingen in genau die entgegengesetzte Richtung geht als die, in die uns die Aristokraten mit diesem Referendum zwingen wollen. Gewaltfreie Aktionen werden sich vor allem in den Gemeinden und den Vierteln entwickeln, wo man die großen Lehren von Ghandi und Martin Luther King lebt und als Vorbild nimmt. Und die mit der großen Kraft, über die sie verfügen, Druck auf die Zentren der Macht ausüben werden. Sie werden verständlich machen, dass im Namen Gottes, des Staates und des Geldes oft die größten Schandtaten gegen die Menschen verübt worden sind und immer noch verübt werden. Deshalb werden sie zu einer Revolution der Werte führen, bei der der Mensch ins Zentrum rückt, mit all seinen realen Bedürfnissen, seien sie physischer oder spiritueller Art. Die reale Wirtschaft wird an Wert gewinnen, nicht die finanziellen Spekulationen. Mit den Werkzeugen der direkten Demokratie und des ökonomischen Kooperativismus werden wir uns in Richtung eines neuen Humanismus und einer neuen Welt bewegen.

Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter

Gerardo Femina ist ehemaliger Präsident der Gemeinschaft für menschliche Entwicklung in Italien. Seit 20 Jahren lebt er in Prag, wo er unter den Förderern der Kampagne 'Europa für den Frieden' und dem Protest gegen das sogenannte Missile Shield (Raketenabwehrschirm) war, den die USA in der Tschechischen Republik installieren wollten. Er schreibt über Politik und Soziales. In den letzten Jahren hat er sich dem Bau des Parks für Studien und Reflexion in der Tschechischen Republik gewidmet.

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Den Text von Gerardo Femina veröffentlicht globalmagazin in Partnerschaft mit Pressenza. Dort erschien der Text im Original.

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